Auch wenn es sich „Trainingslager“ nennt, fühlen sich die drei Tage im Sportpark Rabenberg doch beinahe wie Urlaub an. Hier schmiegen sich die Nadelwälder an Bergkuppen und in die Täler und die Landschaft biegt sich sanft in ihre unebene Gestalt. Ein Entfliehen, eine plötzliche Erholung, ein Ausflug in eine alltagsfremde Welt. Es ist lau hier oben, lau, um nicht zu sagen „kühl“, aber klar, so herrlich klar auf diesem Berg – kein Vergleich zum letztjährigen Hitzewochenende, das wir am selben Ort elendig schwitzend verbrachten.
Darum vollziehen Rupps die ritualgewordene Schlüsselübergabe diesmal nicht im Sonnenschein an der frischen Luft, sondern gemütlich mit Zimmerlisten, Schlüsseln wie Naschereien in einer Schale und feinstem von Familie Naubereit gesponserten Kuchen im großen Hauptgebäude – unserem Lebensmittelpunkt dieser Tage, den wir nur zweimal verlassen werden.
Und sogleich geht es auf zum Abendessen und die Augen sind riesig, die Teller mehrfach gut gefüllt mit Salaten, Gemüse und warmen Speisen. Ein ausgiebiger Genuss, der kurz vor dem Training nur ein falscher Freund sein kann. Gut gesättigt (oder – wer lernfähig ist und das letzte Jahr in weiser Erinnerung behielt – nur zufriedenstellend gefüllt) ziehen wir zum ersten Mal unsere Tanzschuhe über und versammeln uns im Saal. Zu unserer Überraschung erwartet uns dort nicht nur Steve, sondern auch unsere Vereinsvorsitzende Antonia, die Steve während der ersten Einheit mit Erklärungen, scharfem Blick und Demonstrationen unterstützen wird. Doch zuvor müssen die abendbrotgefüllten Körper in Bewegung gebracht werden. Einige verfrüht angereiste tollkühne Tänzer hatten im Scherz als Sieger- und Verliererprämie des vorigen Bowlingspiels die erste Erwärmung ausgelobt. Und so finden sich drei Zweiundzwanzigstel des Grüppchens frontal dem Rest zugewandt und hüpfen, boxen, kreisen Arme und sind begeistert, wie sich ihre vorgeführten Bewegungen mit kurzer zeitlicher Verzögerung durch die Gruppe der ihnen Zugewandten fortsetzen.
Im Hintergrund, wo unserer Trainerpaar verhalten tanzt, kündigt sich schon das Thema dieses Trainingslagers an: Slowfox. Und dann tanzen Antonia und Steve unter unseren andächtigen Blicken die Slowfoxfolge vor, die wir bis 8 Uhr abends (Das Ende der ersten Trainingseinheit!) erlernen sollen: Ein fließender Strom, ein Hauch, ein sanftes Gleiten, das immerfort währt, mal schneller, mal zögerlich, eine wundervolle Folge. Wir ahnen noch nicht, dass unser Scherz „Sonntag um 8“ der Realität recht nahekommt. Zwanzigmal widmen wir uns in minimalistischer Figurenkombi allein dem Hesitation Change. Auf dass er sich fest einpräge! Fünfmal gar ohne ein Wort zu sprechen – und wie schwer es uns fällt, den Mund geschlossen zu halten, keinen Scherz zu machen, keine Einschätzung des letzten Versuchs, keine gutgemeinte Kritik zu äußern. Doch danach – Ein Wunder? – sitzt die Figur. „Some boys kiss me, some boys hug me…“ Wie oft wir diese Zeilen hören, wie oft wir Teil um Teil der Folge wiederholen, sie zusammensetzen, sie üben und üben, Steve beobachten, der manchmal – die Krawatte über die Schulter geworfen – zur Dame mutiert, stets die Melodie im Ohr, bis bald der leise Wunsch an Steve herangetragen wird, bitte doch mit einem anderen Lied unsere Versuche zu begleiten. Und so verfolgt uns überdies der Ohrwurm „Ice Ice Baby“ fröhlich summend nach Hause. Schließlich dauert es drei Trainingseinheiten, bis auch wir die Folge endlich nachzuahmen wissen. Doch der Erfolg ist groß: Wir sind reif für den Formationstanz. Und so erstaunlich es scheint, am Ende gelingt es uns sogar fast, die Folge mit einem Lächeln zu durchtanzen.
Die zweite Trainingseinheit jeden Tages ist dem Lateintanz gewidmet und holt uns aus dem sanften Fluss des Slowfoxes zurück in eine freudige, lockere Beweglichkeit. Wir wiederholen Figuren in Jive und Cha-Cha-Cha und üben vor dem Spiegel, im Paar das Bouncen in Basic-Samba-Figuren. Und zum Glück sind auch dieses Jahr Herr und Frau Rupp zur Stelle und leiten zum Verschnaufen Breitensporttänze an. Herr Rupp zeigt vor, zählt, ruft die Figuren, während wir zunächst durcheinandertaumeln, bis sich das Schrittmuster allmählich auch in unserer Menge durchsetzt und wir bald ein einigermaßen uniformes, doch zumindest lächelndes Gesamtbild geben. So tanzen wir im Kreis, wechseln Partner, bewegen uns allein, kreuzen und tappen, machen die Bärchendrehung und lunschen flugs beim Nachbarn, wenn wir uns plötzlich in alle anderen Gesichter blickend wiederfinden.
Und so sind wir bereits am Freitag ordentlich erschöpft, als 21:30 Uhr die zweite Trainingseinheit aufhört. Doch wir beschließen, dass dies noch nicht des Abends Ende sein kann und so versammeln wir uns flink geduscht auf halber Treppe. Dort drängt sich eine blaue Bankgruppe an die Wände, auf der wir bald zusammengerutscht platznehmen und uns einem abendlichen Naschen, Quatschen und Eierlikör- und Wodka-Trinken widmen. Punkt Mitternacht, beschließt Frau Rupp, wartet das Bett. Brav folgen wir der Anweisung und schlafen dem morgendlichen Training entgegen.
Am Samstagnachmittag darf natürlich der obligatorische gemeinsame Ausflug in die Umgebung nicht fehlen. Unsere Autokolonne zieht durch die grüne Hügellandschaft nach Neudorf und bald spazieren wir unter den Blicken der nun endlich doch erschienenen Sonne durch das Dorf. Hier sitzt die Schauwerkstatt der Familie Huss. Produziert werden von ihnen (und von uns!) Weihrichkarzle. Ein Karzl ist ein Kerzchen. Ein Weihrauchkerzchen oder anders (und doch nicht ganz korrekt) eine Räucherkerze.
Wir ziehen in ein Spitzhäuschen ein, in dem es schon warm und dicht nach Weihrauch riecht und lassen uns an langen Tafeln nieder. Ingo, unser Weihrichkarzl-Fachmann, erklärt uns im „arzgebirgischen“ Dialekt mit humorvollem Schwung Arbeitsschritte und Geschichte des vormals kleinen Unternehmens. Zunächst wälzen wir unsere Hände in Kohle und betasten ganz neugierig den würfelförmigen schwarzen Teigklumpen, der mit der Aufforderung „Noch nicht kneten!“ auf unserem Brettchen erschien. Und dann kneten und formen wir doch, rollen und stellen unsere Kerzchen auf, die wie ein schwarzes Tannenwäldchen nach einiger Zeit unsere Schneid- und Rollbretter überwuchern. Und überrascht stellen wir fest: Es stimmt, dass die meisten Hände (natürlich erst nach dem Schrubben mit Seifenlauge) sauberer hier rausgehen, als sie hereinkamen!
Die kleine freitägliche Geselligkeit war selbstverständlich nur die Übung für den Samstagabend. Im großen Kinosaal bauen wir nach dem Abendessen um eine Tischinsel – unsere Bar, unsere Versorgungsstation – einen fünfundzwanzigzähligen Stuhlkreis, auf dem sich nach und nach die Pärchen niederlassen. Wir schicken Impulse mit Klatschen durch die Reihen, blocken sie ab, senden sie zurück und werfen sie mit einem langgezogenen „Hui!“ über den Tisch hinweg einem Aufmerksamen zu. Wir klopfen beim Sitztanz zu „Lollipop“ einander auf die Oberschenkel und verknoten dabei Arme und Gehirne. Menschenmemory, getestete Sächsischkenntnisse, gemütliches Sitzen und Quatschen über alles, bis die Aufbruchstimmung umgeht und wir gemeinsam die Spuren unserer Anwesenheit beseitigen. Während sich die einen dem Schlaf nähern, finden sich die anderen noch einmal in der blauen Ecke ein, in der der Vorabend ausklang. Doch diesmal ist es nicht nur der Abend, der zu Ende geht, sondern auch der Morgen, der anbricht und mit Wein und restlichen Knabbereien unter ganz unterschiedlichem Wachheitsgrad begrüßt wird.
Noch vor dem Frühstück beginnen die Tage sportlich: Einige unausgelastete Tänzer (oder solche, die sich nach der langandauernden nächtlichen Geselligkeit vom kalten Wasser aufmuntern lassen wollen) ziehen schon vor Acht ihre Bahnen im hauseigenen Schwimmbad.
Urlaub also, sagte ich zu Beginn, denn wie ist dieses Trainingslager gehetzt von „Freizeitstress“! Kaum sind wir auf dem Zimmer, ziehen wir uns flugs um, packen die Sachen neu und auf geht es zum nächsten Programmpunkt – zum Schwimmen, zum Frühstück, zum Training, zum Mittagessen, zur Unternehmung, zum Abendbrot, zum Beisammensein. Und abends fallen wir in unsere Betten. Der erste Moment zum Durchatmen, doch schon sind wir zufrieden eingeschlafen. Und als wir am Sonntag den Rabenberg verlassen, sind wir entspannt und gelöst, dankbar und wehmütig, dass es vielleicht ein ganzes Jahr dauern mag, bis sich diese wundervolle Erfahrung wiederholt.
Der Dank gilt Antonia, die extra zur Unterstützung anreiste, dem Ehepaar Rupp, das noch einmal tatkräftig die Tradition hochhielt und natürlich Steve, der sich dieses lange Wochenende für uns Zeit nahm und uns mit so viel Lockerheit durch die neun Stunden Training leitete, dass sie verflogen, als wären sie ein Abend.
Ein Bericht von Anna Marie Fichtl